Geschichte der Wolgadeutschen
ARBEIT UND KAMPF
Zeitschrift für politische Aufklärung und sozialistische Kulturarbeit in der Roten Armee
1920 Nr. 2

Ein kleiner Beitrag zur Geschichte unserer Kolonien

(Schluß[1])

Der „Auszug eines Schreibens aus Hannover vom 6. Mai 1764“[2] bringt interessante Angaben über die damaligen Lebensmittelpreise in den Distrikten des „Astrachanschen Gouvernements“, Preise, die heute fast unglaublich erscheinen. Hat man auch sonst keinen Grund, die Richtigkeit der Preisangaben ernsthast anzuzweifeln, so dürften sie doch durch die Herkunft des Schreibens (Hannover-Deutschland) in Frage gestellt werden können, umso mehr, als das Schreiben schon nach 10 Monaten nach Erscheinen des zweiten Manifests der Kaiserin Katharina der Zweiten verfaßt worden ist, ihm also, Zeit und Herkunft in Betracht ziehend, der Charakter eines gewollten Propagandaschreibens nicht abgesprochen werden darf.[3]

Der „Auszug“ (1764) hat folgenden Wortlaut:

„Von denen im vorigen Jahre nach Rußland gegangenen Kolonisten ist sehr verschiedentlich gesprochen und in öffentlichen Zeitungen geschrieben worden; jetzt kann man aber mit aller Wahrheit berichten, daß selbige von St. Petersburg nach Saratow, als an den Ort ihres Aufenthalts, in 26 Tagen glücklich angekommen sind, und sich allda an dem berühmten Fluß Wolga niedergelassen haben. Es ist auf der ganzen Reise unter 269 Familien nur ein krank gewesenes Kind gestorben; dahingegen sind 27 Sechswöchnerinnen geworden. Unterschiedene, von denen im Astrakanischen Gouvernement sich nieder gelassenen fremden Kolonisten, unterm 9. May neuen Stiels eingelaufene Brise, können nicht die weise Vorsehung genugsam preisen, die ihnen den Steg zu ihrem Glück und zu ihrer Wohlfahrt gezeiget und gebahnet hat. Die ihnen Allergnädigst angediehene Vortheile werden nach dem besonders fruchtbaren Erdreiche und dem vortrefflichen dasigen Climate, noch um desto ansehnlicher, da alle zum menschlichen Leben nöthige Sachen, nicht allein in allem Ueberflusse, sondern auch nach ihren guten Eigenschaften ungemein wohlfeiler und sehr leicht zu haben sein. So kostet zum Exempel das feinste Weizenbrod von drei Pfunden ohngefähr 7 ½ Kreutzer; das Pfund Weizen-Mehl 5 Kreutzer; ein Pfund Brod von ausgebeutelten Rocken 11/4 Kreutzer, ein Pfund Hirschen 2 ½ Kreutzer; ein Wasser-Eimer voll Milch 5 Kreutzer; das Pfund Honig 3 ¾ Kreutzer; das Pfund Butter 3 ¾ Kreutzer; das Pfund Rindfleisch 3 ½ Kreutzer, das Pfund Schweinefleisch 1 Kreutzer; ein Schwein von 112 Pfunden kostet 1 Reichsthaler; 1 mager Schwein 37 ½ Kreutzer; ein gutes Reit- und Zug-Pferd, das täglich 15 Meilen laufen muß, es sei Persich, Karlemükkisch oder Casakisch, 6 bis 8 Reichsthaler. Eine melkende Kuh von sehr großer Art, die besten 4 Reichsthaler das Stück, ein Ferkel 3 ¾ Kreutzer; Schafe und Lämmer von sehr großer Art das Stück 15 Kreutzer; ein Huhn oder Hahn 3 ¾ Kreutzer; eine fette Gans 5 Kreutzer; ein Paar Enten 3 ¾ Kreutzer; ein Paar große Rebhühner 5 Kreutzer; 8 Stück Eyer ½ Kreutzer. Karpfen, Karausche, Hecht, Baarsche, Sandarten, Stöhr, Lachs, Makrelen bekommt man gleichfalls um sehr geringes Geld. Das Gartengewächs ist eben so wohlfeil, und zwar so, daß die Leute in Winterzeit für zwei Pfennige so viele Rüben, Kohlrabi usw. kaufen können, daß es zu einer völligen Mahlzeit für acht Personen zureichet. Rettige und Zwiebeln wachsen sehr groß. Ein Rettig wieget bis 10 Pfund und kostet zwei Pfennige. Sellerie, Petersilie und Obst giebt es in großer Menge. Ein Wasser-Eimer voll Kirschen kostet 3 ¾ Kreutzer, ein Eimer voll Apfelsinen und Pfirsichen 5 Kreutzer. Vier Melonen sind für 1 Kreutzer zu haben. Es giebt auch viele Weinberge. Der Wein ist süß und das Quart roth und weißer Wein kostet 10 Kreutzer. Rosinen und Feigen sind ebenfalls wohlfeil. Der Spargel wüchset für wild als Unkraut auf dem Acker. Flachs und Hanf trägt der Erdboden auch besonders schön.“

Wieviel nach heutigem Geldwert ein Reichstaler, ein Kreutzer und ein Pfennig ausmachen, ist gegenwärtig nicht festzustellen. Jedenfalls müssen die Lebensmittel billig genug gewesen sein, ein hinsichtlich der Nahrung durchaus sattes, wenn auch inbezug auf die Arbeit recht mühevolles und schweres Leben zu gewähren. Diese Annahme bestätigt sich durch die Worte eines anderen, schon eher zuverlässigen Schreibens, die so lauten: „Erstlich empfängt täglich eine völlig erwachsene Manns-Person sechszehn Kreutzer, ein herangewachsener Sohn oder Tochter jedes gleichfalls zehn Kreutzer und ein Kind, ohne Unterschied des Geschlechts, sechs Kreutzer Reichsmünze zum täglichen Unterhalt, welches für eine ganze Familie etwas ganz nahmhaftes ausmacht“. Geht man von der Berechnung aus, daß eine Familie von 5 Personen bei ihrer Abfahrt aus Lübeck 52 Kreutzer tägliches Zehrgeld erhielt — „welches für eine Familie etwas ganz namhaftes ausmacht“ —, so konnte dieselbe bei ähnlichen Mitteln an der Wolga um manches besser leben, da Landprodukte in einer wenig bevölkerten Gegend naturgemäß billiger als sonstwo sind.

Das dritte, hier zur Veröffentlichung gelangende Schriftstück ist ebenfalls „nicht ganz ohne“. Es betitelt sich „Extract-Schreibens aus St. Petersburg d. d. 2. Juni 1755“ und lautet wie folgt:

„Enthaltend eine zuverlässige Nachricht von dem Zustande der Colonien bei Saratow im Astrachanschen Gouvernement.

Es ist bereits eine große Anzahl Deutsche und andere Ausländer dort etabliert. Fünf Dörfer sind wirklich neu angelegt. Es wird nicht nur alles pünktlich gehalten, was im Manifest versprochen, sondern es geschieht noch mehr. Das Land selbst ist noch lange nicht so fruchtbar und angenehm beschrieben, als es wirklich ist, wie ich aus so vielen Zeugnissen vormaliger und jetziger Augenzeugen weiß. Ein Clima wie in denen warmen Provinzen Frankreichs. Ströhme und Flüsse die Menge. Fische in so erstaunendem Ueberfluß, daß man es kaum glauben kann. Ueberdem ist bei gegenwärtiger Ruhe Persiens die schönste Aussicht in die Zukunft zur Etablierung eines sehr vorteilhaften Handels. Die benachbarten Calmücken, Cosaken, Russen, freundschaftliche Leutchen, die ungemein leicht zu gewinnen sind, und ewigtreue Freunde sein werden, wenn man sie nur nicht hintergeht.

Die Crone befördert die Hereinkommende bis Hamburg, doch nur vorschußweise, sodaß sie einmal in 10 Jahren in dreien Terminen solchen nebst anderen Vorschuß wieder erstatten müssen. Von Hamburg hierher werden sie aber so transportiert. Von hier aber nach Saratow werden sie ganz auf Kosten der Crone ohne Wiedererstattung gebracht. Man bauet ihnen gute Häuser, sie bekommen jede Familie 36 Decetinen, ohngefähr 25 Morgen, Feld, Wiesen, Waldung, freie Fischerei und Jagd, wenige Artickel ausgenommen, Pferde, Kühe, Schaafe, Schweine, als Vorschuß, wie oben, und hinlängliches richtiges Kostgeld bis zu ihrer ersten Erndte. Dabei wird ihnen sonst Handwerkzeug, Materialien, kurz, was sie nur immer wünschen können, mit ungemeiner Freigebigkeit fourniret. Sie haben Freiheit im Lande und außer Landes zu reisen, doch außer Landes nicht anders als nach entrichteten Schulden, Verschiedene sind wirklich zurückgekommen, nachdem sie in einem Jahre so viel gewonnen, daß sie nicht nur allen Vorschuß schon bezahlet, sondern auch noch einige hundert Rubel baar gehabt, um ihre ganze Familie hereinzuholen. Die Religions-Uebung ist vollkommen frei und öffentlich. Die Monarchie hat angefangen, ihre eigene Unterthanen, die in Servitudine (Leibeigenschaft) geboren waren, frei zu machen. Es sind wirklich schon über 1500 Familien da, 800 neuangekommen in Oranienbaum und über 1000 unterwegs. Dieses alles kann ich Ihnen foi d'honnete homme (auf Ehrenwort) zuversichtlich melden und schreibe es zur Ehre unserer Monarchie, des Herrn Grafen Orlows und der Tutel-Kanzlei, ja der ganzen Nation, ohne dazu erkauft oder sonst incidiret (veranlaßt) zu sein. Man kann also allen Armen, Nothleidenden, aber arbeitsamen Leuten, die in ihrem Vaterlande ihr Brod nicht haben, mit gutem Gewissen den Rath geben nach Rußland zu gehen, und versichert sein, daß sie es danken werden.“ —

Der der Einwanderung sehr holde, leider unbekannte Verfasser (wahrscheinlich ein russischer Agent) bemüht sich, wie man sieht, auffällig, die Dinge in ein gutes Licht zu rücken und etwaige Zweifel an der Wahrheit seiner Mitteilung von vornherein zu beseitigen, indem er ungefragt versichert „dazu weder erkauft, noch sonstwie iucidiret“ zu sein. Nun, wir wollen’s ihm gezwungenermaßen glauben, obzwar seine unaufgeforderte Unschuldigkeitsbeteuerung an jenen Wolf erinnert, der ein Schaf zerriß und auf dem Gericht der Tiere ungefragt beteuerte, er könne ein solch schauerliches Vergehen schon aus purer Gutmütigkeit nicht begangen haben. — Ganz unglaubwürdig ist seine Angabe, die „Calmuken“ seien freundschaftliche Leutchen, die ungemein leicht zu gewinnen sind und ewig treue Freunde (!) sein werden, wenn man sie nur nicht hintergeht. Wir wissen weder aus mündlicher noch schriftlicher Überlieferung etwas davon, daß unsere Vorfahren die milden Steppenvölker, wie Kirgisen und Kalmücken, irgendwann einmal hintergangen hätten und trotzdem hatten sie von diesen unsägliche Leiden zu erdulden. Mit der „Freundschaftlichkeit“ war es also nicht weit her. Auch mit der Angabe über das „französische“ Klima hat es seine Bewandtnis. Wir alle wissen genau aus den Erzählungen unserer Vorfahren, daß das Klima hier sehr rau, unwirtlich und krankheiterregend (Fieber) war.

Ob der Verfasser des Schreibens absichtlich das Datum (Monat und Jahr) gefälscht hat, oder ob sich ein Fehler beim späteren Überschreiben eingeschlichen hat, kann nicht festgestellt werden. Es sei nur auf seine Angabe, daß schon 1765 fünf Dörfer angelegt waren, hingewiesen und daran erinnert, daß laut der bisher bekannt gewesenen geschichtlichen Angaben, die ersten Auswanderer erst im Mai 1766 aus Lübeck abgereist sind und die ersten Auswandererzüge sich erst am 24. Juni 1767 an Wolga, an dem Ort, wo jetzt Marxstadt liegt, niedergelassen haben.

Sam. Löbsack.


[1] Die erste Nummer der Zeitschrift „Arbeit und Kampf“, in der der Anfang des Beitrags von G. S. Löbsack veröffentlicht wurde, ist nicht erhalten. – Anm. von A. Spack.

[2] Das Original dieses Dokumentes kann in der Bayerischen Staatsbibliothek eingesehen werden: Auszug eines Schreibens aus Hannover vom 6. May, 1764. – Anm. von A. Spack.

[3] Anmerkung: Das erste Manifest vom 4. Dezember 1762 hatte bekanntlich kerne Zugkraft und Katharina sah sich genötigt, ein zweites Manifest (1763) herauszugeben, verbunden mit mancherlei geschickten Intrigen und künstlichen Schachzügen, um ausländische Elemente, vornehmlich Deutsche, für die Besiedlung der neu erkriegten Gebiete zu gewinnen. Bekannt ist, daß die Russische Regierung zahlreiche Agenten nach Deutschland sandte, um Einwanderer anzuwerben. „Die günstigen Bedingungen lockten in der Tat Tausende von Familien aus allen Teilen des Reichs an. Die Versprechungen erwiesen sich nicht als Täuschung, und so gelangten viele, die fähig und willig zur Landarbeit waren, schon in wenigen Jahren zu gedeihlichem Wohlstand. Allerdings benutzte manche deutsche Regierung die Gelegenheit, Bettler und Landstreicher in Scharen nach Rußland abzuschieben. Diese setzten in der Fremde ihren heimischen Lebenswandel fort, schändeten den deutschen Namen im Ausland und gingen schließlich meist elend zugrunde. Dasselbe geschah mit den verdorbenen Studenten, bankrotten Kaufleuten, ruinierten Offizieren und ähnlichen dunklen Existenzen, die sich in der Hoffnung auf ein neues Leben in beträchtlicher Anzahl nach Rußland begaben.“ (Dr. Viktor Hantzsch in Helmolts Weltgeschichte).


Arbeit und Kampf, Marxstadt, 1920, Nr. 2, S. 9-10.