Geschichte der Wolgadeutschen
1925 DIE ARBEIT Nr. 3 (53)

Franz Schiller

Die Lage der Landarbeiter
in den Wolgakolonien vor der Oktoberrevolution

Nach sieben Jahren proletarischer Revolution scheint es vielleicht überflüssig zu sein, jetzt noch über diese Sache zu reden. Haben wir doch heute einen Verband der Land- und Forstarbeiter, der das Batrakentum des Dorfes vereinigt, seine Interessen beschützt und für die politische und kulturelle Aufklärung seiner Mitglieder sorgt. Ich glaube aber dennoch, daß es auch heute noch nicht ohne Interesse sein wird, die Lage unserer Landarbeiter v o r der Revolution zu beleuchten. Denn der jetzige Landarbeiter, der schon die Früchte der Revolution genießt, soll verstehen lernen, was ihm die Revolution gegeben hat, und da muß er in erster Reihe die Lage des Landarbeiters vor der Revolution kennen. Diese Beleuchtung fehlt aber gänzlich in der deutschen Kolonistenpresse und den Geschichtswerken über die Kolonien. Die Presse der Vorrevolutionszeit schwieg diese Frage aus leicht begreiflichen Gründen gänzlich tot, unsere revolutionäre Presse konnte noch keine systematischen Studien darüber unternehmen, da sie bisher mit anderen dringenderen Fragen beschäftigt war. Außerdem entspricht die unten geschilderte Lage der Landarbeiter, mit Ausnahme derjenigen aus den jetzt in Sowjetwirtschaften verwandelten Landgütern, auch heute noch vielfach der Lage vieler einzelner Dienstboten bei Dorfkulaken, die aus verschiedenen Gründen noch außerhalb des Verbandes stehen und das Opfer einer jahrelangen Verdummungspolitik sind, die das Klassenbewußtsein nicht aufkommen läßt.



Die weitaus größte Zahl der Landarbeiter zählte die Wiesenseite der Wolga. Hier hatte sich nur eine sehr schwache Heimindustrie entwickelt, während auf der Bergseite z. B. die Weberei, Spinnerei usw. einen großen Teil der landlosen Schicht des Dorfes beschäftigte. Die weite, fruchtbare Steppe zwischen der Wolga und dem Ural war vor der Revolution die eigentliche Heimstätte des Großgrundbesitzers im Osten. Wer kennt nicht die typischen Gutshöfe mit dem stolzen Hauptgebäude, den vielen Stallungen, niedrigen Nebengebäuden, endlosen Strohschöbern und dem hohen Schwenkel am Brunnen, der sich den ganzen Tag über auf- und abbewegt? Solche Landgüter (участки), die zu Hunderten zwischen den Kolonien lagen und oft aus zusammengekauftem Kolonistenland entstanden waren, bildeten die größten Sammelpunkte der deutschen Landarbeiter. Aber auch der Dorfkulak, – der zwar eine große, aber technisch rückständige Landwirtschaft betrieb – und lange nicht genug eigene Arbeitskraft besaß, beschäftigte beständig 1 bis 2 Knechte und Mägde und zur Zeit der Ernte noch mehr.

Nach dem Arbeitgeber, der Dienstdauer und der ökonomischen Lage kann man die Landarbeiter der Vorrevolutionszeit in 4 Gruppen einteilen: die 1.Gruppe bildeten die Oberknechte auf den Landgütern. Dies waren gewöhnlich etwas beherzte, ehemals selbständige, dann aber abgewirtschaftete Kleinbauern. Ihr Hauptziel war – einige Jahre zu dienen, sich etwas zu ersparen, um dann wieder selbständig wirtschaften zu können. Sie bewohnten, ein jeder mit seiner Familie, die Nebengebäude des Gutshofs. Über ihnen stand der Verwalter des Landguts. Von ihm wurde ihnen auch die Leitung über ein bestimmtes Arbeitsfeld übertragen, z. B. die Viehfütterung, eine Feldarbeit oder dergleichen, wobei das Hausgesinde die Arbeit unter ihrer Leitung verrichtete. Die Lage der Oberknechte war im allgemeinen erträglich. Das Gehalt bekamen sie gewöhnlich in Naturalien, nur wenig in Geld. Bei der technisch fortgeschrittenen Betreibung der Landwirtschaft auf den Landgütern nahmen die Oberknechte gleichsam eine Kommandostelle gegenüber dem Hausgesinde ein, während sie dem Verwalter und umsomehr dem Grundherrn gegenüber ein unterwürfig heuchlerisches Benehmen zur Schau trugen. Die alte Geschichte! Ein erprobtes Mittel der Ausbeuter! Wie beim modernen Kapitalismus die Arbeiteraristokratie die Henkerrolle der eigentlichen Herren übernahm, so war es auf dem Landgute im kleinen Maßstabe der Fall. Obgleich selbst stark ausgebeutet, obgleich seine Kinder unter fremden Dache großwuchsen, so spielte der Oberknecht im gewissen Sinne die Rolle eines Beamten und Bedrückers der niederen Dienerschaft.

Zur 2.Gruppe gehörte außer dem Hirten und Nachtwächter, die abseits mit ihren Familien in armseligen Lehmhütten wohnten, das Hausgesinde, d. h. die ledige Dienerschaft des Landguts. Sie bildete den eigentlichen Kern der Landarbeiter, deren Lage auch die schlechteste war. Die Ausbeutung erreichte hier ihren Höhepunkt. Der Knecht bekam einen Jahreslohn von 75 bis 90 Rubeln, die Magd von 50 bis 70. Sie hatten keinen Arbeitstag, sondern mußten arbeiten, soviel überhaupt möglich war: vom frühesten Morgen bis spät in die Nacht und während der Erntezeit auch diese hindurch. Sie speisten gemeinsam an der Gesindetafel und schliefen in feuchten Kammern, im Sommer meistens auf dem Ambarboden oder dem Heuschuppen. Die Öde und das Einerlei des Lebens auf dem Landgute drückten auch der Ideologie des Arbeiters den Stempel auf: für nichts hatte er Interesse; die Geselligkeit, die dem Wolgakolonisten sonst so eigen ist, ging verloren, er stumpfte in der jahrelangen, eintönigen Arbeit ganz ab*).

       *) Wie weit diese Abstumpfung ging, zeigt folgender Fall: ein Hirte, der schon über 30 Jahre den Tabun auf einem solchen Landgute hütete, antwortete auf die Frage, was er sich wünsche, – er möchte gern 2 Kirchen voll Geld haben. Auf die weitere Frage, was er dann beginnen würde, erzählte er vor Glück strahlend, dann würde er viel Land und noch mehr Kühe kaufen und letztere bis zum Ende seines Lebens auf dem Lande hüten.

Die 3.Gruppe bestand aus den Jahresarbeitern der Groß- und einiger Mittelbauern. Diese unterschieden sich von der vorhergehenden Gruppe deshalb, weil sie bei dem Bauer gleichfalls zur Familie zählten, also mit ihm in einem Zimmer schliefen und an demselben Tische speisten**). Dies hinderte aber nicht, daß sie oft noch mehr ausgebeutet wurden als beim Gutsbesitzer. Nur fühlten sie ihre Lage niemals so drückend als der Arbeiter auf dem Landgute in der einsamen Steppe. Er wohnte immerhin im Winter im Dorfe, sang an den Abenden mit seinen Kameraden auf der Straße ebenso lustig wie die andere Bauernjugend, die oft von ihnen selbst „g’machten“ Volkslieder, „lugte“ durch die hellen Fenster nach den ledigen Mädels und hatte ebenfalls ein „Mensch“, alles wie sich’s geziemt. Diente eine junge Magd im Hause, so war es oft diese.

       **) In dieser Hinsicht wurden die Landarbeiter und Dienstboten an der Wolga überhaupt niemals so schlecht behandelt als ihre Mitbrüder in der Ukraine, Wolhynien oder im Kaukasus, wo der Knecht gewöhnlich im Stall schlafen mußte, und die Dienstboten auch beim Bauern eine besondere Dienerkost bekamen.

Die 4. und größte Gruppe bildeten die Saisonarbeiter und Tagelöhner. Rekrutierten sich die 2. und 3. Gruppe größtenteils aus ganz landlosen Familien oder Waisen, so bestand diese aus der überflüssigen Arbeitskraft der wirtschaftlich schwachen Familien. Die Stolypinschen Landgesetze hatten in dem letzten Jahrzehnt vor der Revolution auch in den Wolgakolonien ihre Wirkung getan. Ein Dorf nach dem andern war vom Gemeinde- zum Einzelbesitz übergegangen, der Bauer hatte „erbliches“ Land bekommen, das er verkaufen konnte. Das Kulakentum und die Händler im Dorfe nützten jede Mißernte, jedes Unglück einer einzelnen Bauernwirtschaft aus, wandten noch öfter List und offenen Betrug an und hatten auf diese Art kurz vor der Revolution einen großen Teil des Landes in ihren Händen, wovon sie den landlosen und landarmen Bauern zu hohen Preisen verpachteten oder sie zur sogenannten „Halbbauerei“ zwangen, d. h. bei der der Großbauer nur das Land stellte und dafür die Hälfte des Ernteertrags bekam. Diese arme Bauernschicht vermietete ihre ältesten Kinder, oder vermietete sich auch selbst mit ihren 1 bis 2 Pferden „ins Ackern“, „ins Mähen“, „ins Dreschen“. Sie bekamen einen Hundelohn. Ein erwachsener Ackerknecht im Frühjahr erhielt z. B. 8 bis 10 Rubel den Monat. Das Angebot der Arbeitskraft war zu groß und die Nachfrage zu gering. Die meisten Saisonarbeiter und Tagelöhner wurden aber für die Erntezeit gemietet. Da gab es in einer jeden größeren Kolonie am Feste „Peter und Paul“ auf der Hauptstraße einen förmlichen Menschenmarkt, wie sie im 18. Jahrhundert in Buchara üblich gewesen sein mögen. Die Straße wimmelte von ärmlich gekleideten Männern und Frauen, Jünglingen und Mädchen, die ihre Arbeitskraft feilboten. Stolz, mit wichtigen Kennerblicken besichtigten die Dickbäuche die Ware. Sie befühlten die Muskeln, fragten nach Krankheiten, ob und wo der Betreffende schon gedient habe, und wehe, wer da kein hohes „Stage“ und gute Rekommendation über Fleiß, Gehorsam usw. bezeugen konnte – der fand keinen Herrn. Gewöhnlich zögerten die Arbeitsgeber bis zum Abend, um bei der andern Seite den Eindruck hervorzurufen, als sei keine Nachfrage da, damit sie sich umso billiger vermieten sollten. Der Preis war auch nur bei äußerst guter Ernte, wenn die Arbeitskraft nicht ausreichen wollte, erträglich, sonst aber bekamen nur die Knechte mit einem oder zwei Pferden einen mehr oder weniger anständigen Lohn. Ein Knecht, der 18 Stunden im Tag von der Mähmaschine abwarf, bekam ungefähr einen Rubel; eine Frau, die ebensolang Garben band oder an der Dreschmaschine die Spreu wegwarf, so das sie am Abende einen Staubklumpen ähnlich sah, bekam ungefähr 50 Kopeken pro Tag. Und da waren die meisten noch froh, daß sie überhaupt Arbeit hatten. Tausende wanderten jedes Jahr wegen Landmangels nach Sibirien und gründeten dort Kolonien, andere zogen fort auf Arbeit nach der Ukraine, dem Kaukasus und bildeten dort das „liddrige Samarerelement“. Einzelne gingen auf Fabriken und verschmolzen mit der Zeit mit dem russischen Proletariat. Viele arme Familien aber, die mit der Landwirtschaft und der Heimat nicht brechen konnten, sei es aus Unentschlossenheit (denn der Wolgadeutsche hat weniger Unternehmungsgeist und hängt mehr an seinem Gemeindewesen als seine übrigen Stammesgenossen in der Ukraine, Wolhynien usw.) oder andern Gründen, schlossen im Herbste ihre Lehmhütten ab und zogen in eine benachbarte Stadt, wo sie teils von schwerer Arbeit – wie Holzschneiden, Straßen-, Hof- und Kellerreinigen u. dergl., aber auch oft von Bettelei, besonders die Frauen und Kinder, lebten. Im Frühjahr kamen sie ebenso arm wieder zurück und vermieteten sich in die Landwirtschaft. Es gab Dörfer, wo die Hälfte der Einwohner „Wandervögel“ waren. Reiche Leute schrieben das der Faulheit zu, und selbst der deutschfeindliche Welitzin sieht die Ursache der Armut einer gewissen Schicht der Wolgakolonisten darin, daß sie der „väterlichen Fürsorge“ der Zarenregierung entbehren mußten. Heute kann ich leider nicht näher auf den eigentlichen Grund dieser Armut eingehen – es würde zu weit führen – allein diese Erscheinung beweist genügend, wie weit die soziale Gliederung der Bevölkerung fortgeschritten war, viel weiter als man gewöhnlich annimmt.

Was die Zahl der Landarbeiter in den Wolgakolonien betrifft, so liegen absolut keine offiziellen Angaben vor. Nach beiläufigen Berechnungen mag die Zahl der Jahresdienstboten kurz vor dem Kriege allein auf 600 000 Einwohner nicht weniger als 10 000 betragen haben, während die Zahl der Saisonarbeiter und Tagelöhner weit das Zehntausend überstieg. Dabei war dieser ganze Haufen unorganisiert und sich seiner Ausbeutung wenig, höchstens instinktiv, bewußt, da absolut keine Propaganda oder Aufklärungsarbeit unter ihnen geführt wurde. Zum Streike kam es nur hie und da bei einzelnen Arbeitergruppen an Dreschmaschinen, wenn der Lohn bei guter Ernte allzu niedrig war. Das Revolutionsjahr 1905, das die benachbarten russischen Bauern und Batraken zu revolutionären Taten führte, ging an den deutschen armen Bauern und Landarbeitern spurlos vorüber, so groß war damals noch das Mißtrauen und der nationale Antagonismus, der im Interesse des deutschen Großgrundbesitzes sorgfältig gehegt wurde.

Nun noch einige Worte über die Behandlung des Landarbeiters (respektive Dienstboten), seine gesellschaftliche Stellung und sein kulturelles Niveau.

Im allgemeinen sprach der Verwalter, der Oberknecht mit dem Gesinde, sprach der Dorfprotze mit der Dienerschaft in einem Tone, als wenn alle taub wären. Bezeugte man sonst jemandem seine Hochachtung, indem man ihn mit „Ihr“ anredete, so sagte ein jedes Familienmitglied zum Knechte „Du“. Physische Mißhandlungen kamen bei Knechten selten vor, da auch der ärmste Knecht in diesem Falle die höchste Herrschaft über den Haufen gerannt hätte. Frauen und jüngere Dienstmädchen mußten dagegen auch Mißhandlungen über sich ergehen lassen. Am häßlichsten trat das Verhältnis hervor, wenn der Arbeiter erkrankte. Nur selten wurde der Arzt geholt; hatte der Kranke auch noch so ferne Verwandte, so wurde er zu ihnen gebracht, wenn nicht, so stand es schlecht um ihn. Ebenso wurde auch älteren Leuten rechtzeitig der Dienst gekündigt, um sie im Alter nicht zur Last zu haben. Natürlich gab es, besonders unter den Mittelbauern, auch Leute, bei denen der Dienstbote überhaupt wie ein Familienmitglied betrachtet und behandelt wurde. Das Dienstjahr begann nicht mit Neujahr, sondern gewöhnlich mit Michaelis (manchmal mit Weihnachten). War im vergangenen Jahr eine Seite nicht zufrieden, so wanderte der Dienstbote. Das Jahresgehalt betrug bei den Knechten meistens 60 bis 100 Rubel, bei den Mägden 40 bis 60 und irgendein Kleidungsstück. Bei der Gehaltbestimmung spielte außer dem Alter und der Gesundheit auch der Leumund des Dienstboten eine wichtige Rolle. Besonders gesucht waren „willige“ Leute, d. h. solche, die sehr fleißig, gut und mit stillem Gehorsam alle Arbeiten verrichteten. Dagegen mußten besonders „verschiedene“ Wirte, bei denen es kein Mensch „aushalten“ konnte, höhere Löhne zahlen.

Von den öffentlichen Angelegenheiten waren die Dienstboten ganz ausgeschlossen. Da die meisten von ihnen landlos waren, so hatten sie in Dorfangelegenheiten kein Stimmrecht. Dies alles trug dazu bei, daß sie politisch eine untätige Masse darstellten.

Was das kulturelle Niveau betrifft, so stellten diese Leute fast ausschließlich das Heer der A-B-C-losen. Dies erklärt sich hauptsächlich dadurch, daß sie schon als Kinder „unter fremde Hände“ als Kindermädchen oder Hirtenbuben kamen, sie somit keine Möglichkeit hatten, die Schule zu besuchen. Der weibliche Teil ganz, und teilweise auch der männliche, stand unter dem Einfluß der Kirche, besonders der verschiedenen Sekten von Betbrüdern. Dies Sektenwesen, das wohl kaum noch irgendwo stärker verbreitet ist als an der Wolga, erstickte mit seinen knöchernen Phrasen und überspannten Extasen jedes aufkeimende Klassenbewußtsein. Vielen schien es ganz in der Ordnung zu sein, daß andere Herren und sie Knechte waren.

So stans es bis zum Weltkrieg. Während des Krieges diente der größte Teil der Landarbeiter und Halbbauern in der Armee, manche waren in der Gefangenschaft und erweiterten ihren Gesichtskreis. Die ersten Pioniere der Revolution und die Träger ihrer Ideen in den Wolgakolonien waren deshalb auch die von der Front heimgekehrten Batraken und Söhne armer Bauern. Ihre Arbeit auf dieser Front zu beschreiben und genügend zu würdigen, harrt ebenfalls, wie die ganze Forschung über die sozialen Zustände in den Kolonien vor der Revolution, noch ihrer Bearbeitung.

Die Arbeit (Moskau), 1925. Jg. 3, № 3 (53). S. 1482-1485.